Predigt von Superintendent Christian Heine-Göttelmann zum Reformationstag 2012

Predigttext: Brief des Paulus an die Galater, Kapitel 5, Vers 1-4


„Hier steh ich nun, ich kann nicht anders, Gott helfe mir.
Amen.“ Das hat Martin Luther wohl nie gesagt. So wenig wie
Neil Armstrong den Satz „Ein kleiner Schritt für mich, ein großer
Sprung für die Menschheit“ als er angeblich den Mond betreten
hat. Die großen Sätze werden meist erst hinterher geschrieben,
wenn alle Welt in dem damals nüchternen und vielleicht
unspektakulären Moment im Nachhinein die große
Zeichnung der Geschichte erkennt.

Macht ja nichts. Gesagt hat Luther damals in Worms wohl eher:
„Gott helf mir. Amen.“ Kurz und knapp. Weniger wortreich,
weniger große Geste. Ist mir eigentlich sympathischer so.
Er hat aber auch gesagt, und das ist vielleicht viel wichtiger:
„darum kann und will ich nichts widerrufen, weil gegen das
Gewissen zu handeln weder sicher noch lauter ist.“ Wahnsinn!
Das was wir heute selbstverständlich finden ist damals geboren
worden: Das Gewissen als oberste Instanz menschlicher Entscheidung.

Der Anfang des Individuums. Jeder Christ steht mit
seinem Gewissen vor Gott. Nicht die Kirche noch irgendeine
andere Autorität kann letztendlich entscheiden, was für den
Einzelnen gut und richtig ist. Diese Entscheidung ist eine einsame
und die Verantwortung ist schwerer geworden, weil ohne
Hilfestellung und doch befreiend vom Urteil anderer. Das ist
der moderne Mensch: nackt vor Gott. Gezwungen zur eigenen
Wahl und Entscheidung.

So steht Luther in Worms vor dem Kaiser. Er wäre der erste,
der seine Schriften anzündet, wenn man ihm den Irrtum widerlegen
könne, sagt er. Es reicht nicht, dass die Kirche sagt, Luthers
Schriften seien gegen ihre Lehrmeinung. Damit ist das
Schicksal besiegelt: Luther wird zum Ketzer, seine Schriften
verboten.

Und wie das so ist, wenn etwas verboten ist: es verbreitet sich
um so mehr: die Spatzen pfeifen es von den Dächern: das geistliche
Volkslied entsteht, Pfarrer und Mönche predigen. Der Kaiser ist in unaufhörliche Kriege verwickelt und die weiteren Reichstage mit ihren Landesherren vertagen immer wieder die Frage der Durchführung des Wormser Edikts. „So viel als möglich“ wollten die Fürsten es umsetzen, die Städte lehnten es
ganz ab.

Priester treten in den Ehestand, Gemeinden feiern das Abendmahl
mit Brot und Wein, Armenverordnungen werden verfasst, Martin Luther übersetzt die Bibel auf der Wartburg. Der Wormser Reichtag beschleunigt die Reformation und deren Ausbreitung. Doch es kommt auch der Bauernkrieg und die gewonnene Freiheit (des Christenmenschen) wird zum Fluch. Luther ruft nach der Ordnung der Obrigkeit und verrät den Protest gegen das System. Diese Freiheit hat Luther nicht gewollt.


Was also ist Freiheit? Eine Frage, die der heutige Predigttext
aufwirft, den ich gleich lese. Heute sagen wohl die meisten: „Persönliche Freiheit ist die Möglichkeit, zu tun was ich will.“ Eine Freiheit, die als Wahlfreiheit verstanden wird. Im Kleinen die Wahlfreiheit, welches
Urlaubsziel ich auswähle und welche Kekse ich esse. Wir begreifen Freiheit also im Allgemeinen von unseren Möglichkeiten her zu Handeln: Was will ich und was kann ich tun? Und je mehr ich tun kann, um so freier bin ich! Freiheit erweist sich durch meine Möglichkeit zur Tat.

Überlegungen des Galaterbrief dazu: Kapitel 5, in dem Paulus
uns von der christlichen Freiheit schreibt:
1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und
lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!
2 Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden
lasst, so wird euch Christus nichts nützen.
3 Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden
lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist.
4 ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht
werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen.

Klasse und voll im Sinne der Reformation: „Zur Freiheit hat
uns Christus befreit. Der Glaube macht frei und besteht nicht
darin, eine Unfreiheit lediglich gegen eine andere einzutauschen.
So sollte das sein. Gute Einsicht.

Weniger Klasse: das Thema Beschneidung. Soll/will ich dazu
überhaupt noch etwas sagen? Vielleicht so viel:

1. Es war gut
zu beobachten, dass sich deutsche Christen und allen voran die
evangelische Kirche zunächst einmal schützend vor die
Schwestern und Brüder jüdischen und islamischen Glaubens
gestellt haben. Aus der Geschichte gelernt.

2. Der Eingriff ohne Zustimmung des Betroffenen ist ein Übergriff.

3. Die Idee, dieses Feld den Juristen zu überlassen und es nicht zum Thema der Gesellschaft und der Politik zu machen, ist schwach.

4. Heribert Prantl, Journalist der Süddeutschen Zeitung, sprach in dieser
Debatte davon, dass es nicht nur einen religiösen Fundamentalismus
gebe, sondern auch einen antireligiösen Fundamentalismus.
Das halte ich für eine richtige Beobachtung. Als sei Religion
etwas, das die Grund- und Menschenrechte verneine oder
aufweiche.

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und
lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“
Etwas ist auffällig am Galatertext! Denn wenn ich Paulus hier
richtig verstehe, besteht nach seiner Überzeugung die christliche
Freiheit in erster Linie gar nicht im Tun, sondern in einem
Lassen!

Paulus begreift nämlich das Handeln, hier nicht als Freiheit,
sondern als Zwang. Die vermeintliche Freiheit des Handelnkönnens
( hier die Möglichkeit sich beschneiden zu lassen) ist
in Wahrheit der Zwang des Handelnmüssens. Der Mensch kann
sich durch sein Handeln weder definieren noch rechtfertigen.

In Luthers Schrift `Von der Freiheit eines Christenmenschen
´(1520) klingt das folgendermaßen:
„So sehen wir, dass ein Christenmensch an dem Glauben genug
hat: er bedarf keines Werkes, um rechtschaffend zu sein. Bedarf
er keines Werkes mehr, so ist er gewiss von allen Geboten und
Gesetzen entbunden, so ist er gewiss frei“.
(Zitat aus: Ulrich H.J. Körtner: Stückweise. Fragmentarische
Reflexionen über den Sinn des Lebens; Wien 1995; Seiten 64
und 65)

Für uns Individuen heute ist das weniger die Beschneidung – in
christlichem Kontext – sondern vielleicht eher die Frage der
Rollenerwartung.

In seinem Briefwechsel mit Bethge schreibt Bonhoeffer aus
dem Gefängnis am Tag nach dem missglückten Attentat auf
Hitler über die Frage, welche Rolle wir als Christen eigentlich
einnehmen sollen:
„Ich erinnere mich eines Gespräches mit einem französischen
Pfarrer. Wir hatten uns ganz einfach die Frage gestellt, was wir
mit unserem Leben eigentlich wollten. Da sagte er: ich möchte ein Heiliger werden; das beeindruckte
mich damals sehr. Trotzdem widersprach ich und sagte ungefähr:
ich möchte glauben lernen. Lange Zeit habe ich die Tiefe
dieses Gegensatzes nicht verstanden. Später erfuhr ich und ich
erfahre es bis zur Stunde, daß man erst in der vollen Diesseitigkeit
des Lebens glauben lernt.
Wenn man völlig darauf verzichtet hat etwas aus sich zu machen
– sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder
einen Kirchenmann (...), einen Gerechten oder Ungerechten,
einen Kranken oder einen Gesunden … und dies nenne ich
Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge
und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, -
dann wirft man sich Gott ganz in die Arme.“

Was heißt das gesellschaftlich? Für unsere Kirche z.B., die geradeauch das Reformationsjubiläum vorbereitet? Wo bleibt derin der Reformation spürbare Protest gegen das Vorfindliche, dieFrage und Selbstzweifel aus der Analyse, die aus der Diesseitigkeitentspringen müsste? „Solange sich Protest gegen unsselbst regt, besteht noch Hoffnung. Nur wenn man sich akzeptiert,ist die Sache verloren. Anders gesagt: Solange man beunruhigtist, darf man beruhigt sein.“ (Julien Green, Tagebücher)

Wir folgen doch selbst eher den Gesetzen der Selbsterhaltungder Organisation als uns und der Gesellschaft ein kritisches Gegenüberzu sein. Als die Boten einer Welt, die noch nicht ist,die aber von Gerechtigkeit und der Teilhabe aller an der GesellschaftGottes und damit der Lebensfülle erfüllt ist.„Die Rechtfertigungslehre (und damit der reformatorische Freiheitsgedanke) hat bisher immer nur in bestimmten Zeiten ihreBedeutung mit Nachdruck gezeigt. Wenn in Gesellschaftengrundlegende soziale Strukturen zerbrechen, aus denen Menscheneine umfassende Sicherheit empfingen, kommt die Zeitfür die Rechtfertigungslehre. Dann zeigt sich, dass jene bisherigeOrdnung ein Zwang war und jene Sicherheit nur Gefangenschaft.Dann zeigt sich: es gibt weitaus Besseres.“ (Hans-PeterGensichen, Deutsches Sonntagsblatt)

 Ich habe in einer Fortbildung mit Kolleginnen und Kollegen geübt, Kirche ohne Kirchensteuer zu denken. Sind wir dazu bereit? „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“

„Gott helf mir. Gott helfe uns. Amen.“