Das Goldene Kalb

von Carsten Ledwa

Aschermittwoch beginnt die Passions- und Fastenzeit, die bis Ostern genau 40 Tage dauert, wenn die Sonntage als sogenannte „Herrentage“, also als Festtage, an denen wir die Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus feiern, herausgenommen werden.


40 Tage oder Jahre bilden in der Bibel bedeutsame Zeiträume. 40 Jahre befanden sich die Israeliten, nachdem sie aus der ägyptischen Sklaverei befreit worden waren, auf dem Weg ins eigene Land. Als sie am Berg Sinai eine längere Rast einlegten, stieg Mose für 40 Tage auf den Berg, um die Zehn Gebote, von Gott selbst in zwei Steintafeln gehauen, in Empfang zu nehmen.
Im 32. Kapitel des 2. Buches Mose wird uns erzählt, wie die Israeliten während der langen Abwesenheit ihres Führers unter der Anleitung von Aaron das sprichwörtlich gewordene „goldene Kalb“ anfertigten, indem sie ihre privaten Schmuckstücke sammelten und einschmolzen. Ausgelassen feierten sie dann ihr neues Schmuckstück. Diese doch sehr bekannte Geschichte ist dem Aschermittwoch zugeordnet.


Wir begreifen die zeitlose Bedeutung dieser Geschichte, wenn wir versuchen, die Israeliten zu verstehen: Ihr Führer Mose war längere Zeit nicht da. Sie hatten die Person verloren, die ihnen auf dem gefahrvollen Weg durch die Wüste Orientierung gegeben hatte. Und mit ihm hatte sich anscheinend auch Gott zurückgezogen. Nun brauchten sie einen Ersatz. Sie brauchten etwas, woran sie sich festhalten konnten, was ihnen jetzt Freude gab. Also machten sie sich ein wertvolles Standbild und opferten dafür ihren wertvollen Besitz.
Kleine Kinder zeigen uns, wie sehr wir Menschen etwas brauchen, woran wir uns festhalten können. Kinder haben Kuscheltiere, Schmusekissen oder Ähnliches. Ein solches Ding ist eine wichtige Hilfe bei den ersten Schritten der Selbständigkeit. Die Mutter steht nämlich nicht mehr pausenlos zur Verfügung. Ein Teddybär, oder was immer sich das Kind ausgesucht haben mag, gibt das Gefühl der Geborgenheit, gibt Sicherheit, ist ein treuer Begleiter.


Haben die Israeliten, als sie sich allein fühlten, mit dem „goldenen Kalb“ nicht auch solch ein Kuscheltier gemacht? Sie brauchten einen Halt, etwas, das ihnen Sicherheit und Geborgenheit gab. Sie glaubten, dass ihr starker Führer und mit ihm ihr Gott ihnen verloren gegangen war. Warum wird Mose, als er vom Berg herabsteigt,  so zornig und zeigt er so wenig Verständnis für dieses Bedürfnis seines Volkes nach einem Ersatz?

Mose wurde zornig, weil er merkte, dass sich die Israeliten keinen guten Ersatz ausgesucht hatten. Das „goldene Kalb“ hatte mit dem Gott, der sie aus der Knechtschaft in Ägypten herausgeführt und ihnen eine gute Zukunft in einem eigenen Land versprochen hatte, nichts zu tun. Dieser Ersatz bestand zwar aus wertvollem Material, war aber hart und kalt und starr und unbelebt. Das Standbild barg keine guten Erinnerungen und keine gute Zukunft. Es machte den Aufenthalt in der Wüste zwar für einen Augenblick angenehmer, es lenkte für einen Augenblick von den Sorgen und Mühen in der Wüste ab, aber es konnte nicht aus der Wüste herausführen.


Mose hatte den Israeliten vom Berg nach der Begegnung mit Gott etwas Besseres mitgebracht, um den Weg in die Selbständigkeit zu finden. Er hatte die Zehn Gebote in der Hand. Die Zehn Gebote sollten die Israeliten an Gott erinnern, der sie aus der Sklaverei befreit hatte. Und die Zehn Gebote sollten ihnen zu einer guten Zukunft verhelfen, zu einer tragfähigen Beziehung zu Gott und zu guten Beziehungen untereinander. Die Zehn Gebote fördern das Leben, fördern die Selbständigkeit und die Freiheit.
Wir alle sind in der Gefahr, uns an etwas zu klammern, das uns eigentlich nicht gut tut. Wir suchen Geborgenheit und Sicherheit bei Dingen, die uns doch nicht wirklich helfen können, frei und selbständig zu sein. Das können bestimmte Erlebnisse oder Besitztümer sein. Sie mögen zwar mit einem gewissen Glanz umgeben sein, aber sie schenken uns kein erfülltes Leben. Sie sind kalt und starr und hart.   

Die Passions- und Fastenzeit kann dazu dienen, darüber nachzudenken: Welchen Ersatz für ein wirkliches Leben suchen wir uns? In welchen falschen Sicherheiten wiegen wir uns? Welchen irreführenden Vorbildern laufen wir nach? Woran klammern wir uns hilflos, und was könnten wir mit Gottes Hilfe loslassen? Was fördert unser Leben? Was hilft uns, uns zu entwickeln? Was lässt unsere Beziehung zu Gott und unsere Beziehungen zu anderen Menschen wachsen und reifen? Gott, der das Leben ist, verhilft uns zu freiem und selbständigem Leben.